Halbzeit in Reykjavik

  

Reykjavik Open
In Island gehen die Uhren anders. In vielerlei Hinsicht. Sportlich mischt der kleine Inselstaat im äussersten Nordwesten Europas mit seinen 330.000 Einwohnern schon seit Jahren die Szene auf. Im Schach die größte GM-Dichte weltweit, die Fussballer souverän für die EM im Sommer qualifiziert, im Handball in der erweiterten Weltspitze u.s.w. Anders als im Rest der Welt liess man während der Finanzkrise 2008 konsequent die Banken pleite gehen und bat statt dem Steuerzahler deren Gläubiger zur Kasse, incl. Strafverfahren gegen Verantwortliche in Finanzwelt und Politik. Die Wut der ansonsten ziemlich friedfertigen Bevölkerung spülte 2010 den Künstler und Punk Jon Gnarr mit einer neugegründeten Satirepartei „Die beste Partei“ ins Bürgermeisteramt von Reykjavik.

Gnarr war es auch, der das Reykjavik-Open bei meinem letzten Besuch noch eröffnete. Heuer reiste ich bereits zum 4.Mal zu meinem absoluten Lieblingsturnier an.

Die Vielzahl der internationalen Titelträger, der großzügige Spielort, eine architektonisch beeindruckende Konzerthalle an der Atlantikküste, die unvergleichliche isländische Natur, das heimelige überschaubare Reykjavik mit der ausgeprägten Kaffeehauskultur und dem bemerkenswert guten Angebot an vegetarischen Lokalen ergibt für mich eine optimale Mischung. Mit dabei in Reykjavik diesmal auch Frank Amos vom SK Lauffen und Alexander Probst (SC Bad Wimpfen). Die Vorbereitung auf die gestrige 5.Runde verbrachten wir am Meerschwimmbad von Reykjavik bei Außentemperaturen von 0°C in einem warmen Becken mit knapp 40°C, ehrfurchtsvoll auf das Meer in 50m Entfernung starrend. Frank und ich wollten den Einheimischen aber nach einigem Zögern in Nichts nachstehen und stürzten uns dann doch in den 2,5°C kalten Atlantik. Einminütige Abkühlung, und dann schnell wieder in unseren „hot tube“.

Schachlich lief das Turnier für mich bislang bestens. Gleich zum Auftakt konnte ich einem jungen dänischen IM (ELO 2412) ein Remis abtrotzen. Ohne meine chronischen Zeitnotprobleme hätte ich meinen Stellungsvorteil von +0,70 im späten Mittelspiel vielleicht sogar zum Sieg ausnutzen können. In der 2.Runde knüpfte ich gegen eine serbische WGM nahtlos an meine zuvor gezeigte Leistung an und verdarb die ausgeglichene Stellung durch einen positionellen Fehler erst spät. Die 3.Runde bescherte mir einen notorischen Angstgegner. Ein zehnjähriges isländisches Kiddie, Teilnehmer an einer Jugend-WM und mit einer ELO von bereits 1.599, jedoch deutlich stärker spielend. Mühsamer Gewinn. In der 4. Runde bei leichten positionellen Nachteilen nach einem Konter ein etwas glücklicher Sieg gegen isländische 2.164 ELO, bevor mich gestern gegen einen kanadischen FM nach zähem Kampf eine verdiente Niederlage ereilte. Macht zur Halbzeit Platz 104 unter 233 Startern (Frank Amos 114., Alexander Probst 145.). In Führung bislang Ivan Cheparinov (BUL).

Das Turnier ist wie gewohnt ausgezeichnet organisiert. Ein umfangreiches Rahmenprogramm (Ausflug, Fussball, Pubquiz, Blitzturnier etc.), Gratisgetränke während der Partie, Ohrstöpsel für extrem lärmempfindliche (im Turniersaal herrscht eine herzerquickende Ruhe), hohe Schiedsrichterdichte, Liveübertragung etc.). Vielleicht einziges Manko für manchen Spieler des SV 23 Böckingen: absolutes Remisverbot vor dem 30.Zug! 🙂